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Bund für vereinfachte rechtschreibung (BVR)

presseartikel1982-02-27 → Kettenreaktionen
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Badener Tagblatt (tages­zeitung in Baden, Schweiz), , nr. 48

Kettenreaktionen

Hinter dem Bözberg träumt der Effinger Sekundarlehrer Ernst Bopp, den längstverblichenen Gymnasialdirektor Konrad Duden im Ringen um die deutsche Rechtschreibung besiegen zu können. Weil seine schwächeren Schüler nicht wissen, welche Wörter gross und welche klein zu schreiben sind, will er kurzerhand die grossen Buchstaben abschaffen. Das Problem ist ebensowenig neu wie der Versuch, es zu lösen, indem man es aus der Welt schafft. Immerhin, die erste Hürde hat Herr Bopp schon im Aufgalopp bezwungen: die vermutlich ebenfalls schreibschwache Mehrheit des aargauischen Grossen Rates hat die Regierung beauftragt, den Bundesrat mit einem feierlichen Staatsakt, einer sogenannten Standesinitiative, zu beschwören, beförderlichst die Kleinschreibung im ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft einzuführen.

Es geht mir hier jedoch nicht darum, dass das Mittel lächerlich und der Bundesrat nicht zuständig ist: selbst wenn wir inskünftig alles klein schreiben müssten oder dürften, wären die Schwierigkeiten für die Schüler – und die Erwachsenen – noch längst nicht behoben. Am meisten nämlich stolpern sie nicht über die Grossschreibung, sondern über die Interpunktionsregeln, hernach aber auch über das Getrennt- oder Zusammenschreiben, über die Schreibweise von Fremdwörtern, von den zahllosen Fussangeln der deutschen Grammatik ganz zu schweigen. Damit auch der Dümmste keinen Fehler mehr machen könnte, müsste man alle Schreibregeln abschaffen. Das ist vielleicht ein Lehrertraum – aber nicht einmal ein schöner. Damit alle, die schreiben und lesen, einander verstehen können, müssen sich eben alle an die gleichen Regeln halten. Davon, dass die Sprache als Kunstwerk im anarchischen Sumpf der Schreibe unterginge, will ich in diesem Zusammenhang gar nicht reden. Selbst Regeln, die manchen sinnlos erscheinen, sind besser als gar keine Regeln, und im übrigen waren ja auch die grössten Dichter im deutschen Sprachraum nicht einfach Sklaven des Herrn Duden; sie erlaubten sich jene Freiheiten, die ihnen aus stilistischen oder anderen Gründen richtig erschienen.

Das alles relativiert ungemein den Wert, der dem Reformeifer des Herrn Bopp beizumessen ist – aber es relativiert ihn noch nicht genug. Das eigentliche Problem liegt ja wohl darin, dass die Kinder kaum mehr lernen, das Schreiben als Ausdrucksmittel – als Kommunikationsmittel, wie man heutzutage sagen muss – zu beherrschen. Das ist keine Behauptung, die ich leichthin aus dem Aermel geschüttelt habe. Einer meiner Bekannten, ein Mittelschullehrer, der seit langem als Schulinspektor in der Ostschweiz amtet, hat mir vor einigen Monaten erklärt, dass die Deutschaufsätze der Zwölf- bis Sechzehnjährigen heute zumeist hilfloser und mit einem dürftigeren Wortschatz abgefasst sind als früher. Er hat mir nun auch eine Studie der Amerikanerin Marie Winn zugeschickt, die ähnliche Erfahrungen in ihrem Land gesammelt hat.

«Mit einer zunehmenden Zahl von Studenten belastet, die unfähig sind, zusammenhängende Sätze zu formulieren … sehen sich mehr und mehr Colleges und Universitäten gezwungen, Nachhilfekurse in diesen Grundkenntnissen anzubieten», heisst es da etwa in einem Artikel der «New York Times». Wir sollten uns freilich vor der Annahme hüten, im Mutterland der deutschen Sprache sei es in dieser Hinsicht besser bestellt. In den späten sechziger Jahren wirkten dort ganze Horden von Junglehrern, die ein gutes Deutsch als bürgerliches Vorurteil oder gar als kapitalistisches Repressionsmittel verdammten und ihre Schüler ermunterten, sich in einem anarchischen Gassenjargon mitzuteilen, je vulgärer, desto besser. Daraus zu schliessen, diese «Pädagogen» seien im wesentlichen für die Verwilderung und Verarmung der deutschen Sprache verantwortlich, wäre freilich falsch.

Schon die alten Griechen und Römer anerkannten das eiserne Gesetz, das der Bildungsforscher Carlos Baker prägnant formuliert hat: «Zu lernen, sich schriftlich auszudrücken, ist das Schwierigste und Wichtigste, was ein Kind zu leisten hat. Schreiben lernen heisst denken lernen.» Schreiben aber lernt man anderseits durch Lesen, nur auf diesem Wege kann man sich auch das Schriftbild einprägen und einen grossen Wortschatz erwerben. Lesen ist somit ein Gehirntraining, von dem in hohem Masse der Erfolg eines Schülers abhängt.

Doch die junge und jüngste Generation liest immer weniger. Marie Winn machte in ihrer bereits erwähnten Studie ausschliesslich das Fernsehen dafür verantwortlich, was aus amerikanischer Sicht vielleicht noch eher zutreffen mag als aus der unseren. Es kommt eben noch dazu, dass auch bei uns heutzutage schon die Jüngsten wenn immer möglich ihre Zimmer mit Kassetten- oder Schallplatten-Heulern in höchster Lautstärke erfüllen oder den zeitgenössischen Tonbrei durch Kopfhörer absorbieren. Und wenn sie etwas grösser sind, verbringen sie zudem noch ihre abendliche Freizeit mit Vorliebe im ohrenbetäubenden Gestampfe, Gejaule und Gewimmer der Diskotheken, was sie nicht nur der Möglichkeit, sondern wohl mehr noch der Notwendigkeit enthebt, sich mit ihren Partnern zu unterhalten, sofern solche überhaupt vorhanden sind, denn dort tanzt ohnehin jeder und jede für sich allein. Dieser Verlust an Kommunikationsfähigkeit ist nachweisbar auch mit einem Verlust an physischer Hörfähigkeit verbunden, und ferner mit einem – leider nicht so leicht messbaren – Verlust an Konzentrationsfähigkeit.

Die Konzentrationsfähigkeit leidet aber nicht minder bei jenen Kindern, die im Uebermass vor dem Bildschirm hocken. Sie werden dort von einer nicht abreissenden Fülle von Bildern und Geräuschen überschwemmt, die sie zumeist gar nicht bewältigen können und wohl auch gar nicht wollen, weil gerade die geistige Passivität beim Fernsehkonsum die Faszination ausmacht, das vielfach gerade die Jüngsten gleichsam in Trance versinken lässt.

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Gewiss werden Kinder, die viel fernsehen, zumeist auch noch lesen – aber ebenso gewiss lesen sie weniger als die anderen. Dieser Unterschied ist für ihre geistige Entwicklung zumindest nicht unerheblich. Denn Lesen ist kein passives, träges Aufnehmen optischer Reize, es setzt vielmehr eine vielfältige geistige Aktivität voraus. Lesen schult die Konzentrationsfähigkeit des Verstandes, entwickelt die Phantasie und das Vorstellungsvermögen, und die Möglichkeit, das Lesen zum Nachdenken zu unterbrechen und in beliebigen Abschnitten zu wiederholen, schafft ein besseres und tieferes Verständnis der durch die Lektüre vermittelten Botschaft.

Demgegenüber sind Fernsehsendungen, zumindest für den Konsumenten, nicht wiederholbare «Wegwerfartikel». Sachverhalte und Sätze müssen deshalb vereinfacht, wenn nicht gar simplifiziert werden, weil sie sonst nicht verarbeitet und demzufolge auch nicht verstanden werden, zumal da die Sendeanstalten die Konzentration durch die Kumulation von optischen und akustischen Reizen zusätzlich und vorsätzlich stören und mitunter überhaupt verunmöglichen.

Also könnte man die Kettenreaktion umschreiben: Wer nicht liest, lernt nicht schreiben, wer nicht schreibt, lernt nicht denken, wer nicht denkt … ich will diesen logischen Gedankengang hier nicht bis zum bitteren Ende weiterführen. Aber die Abnahme der Denkfähigkeit manifestiert sich bei uns und anderwärts deutlich genug im politischen und gesellschaftlichen Leben, das immer mehr von modischen Schlagworten anstatt von logischen Argumenten geprägt ist.

Uebrigens: Sekundarlehrer Bopp aus Effingen führte als «Argument» für seine famose Standesinitiative zugunsten der Kleinschreibung auch an, dass die Schüler zweifellos für diesen Vorschlag stimmen würden. In einer Zürcher Schulklasse wiederum liess ein Lehrer die Schüler darüber abstimmen, ob sie lieber lesen oder fernsehen möchten – sie zogen ausnahmslos das Fernsehen vor. Auch diese Gedankenkette könnte man bis zum bitteren Ende weiterführen.


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